„Hallo?! Hallo?“, immer wieder habe ich ins Telefon gesprochen, bis ich es meinem Vater mit den Worten, dass ich nichts hören kann zurückgab. Als er das Telefon ans Ohr nahm konnte er sprechen. Was war hier los?
Als diese Situation geschah befand ich mich gerade in einer Reha-Klinik in Brandenburg an der Havel. Ich war vor einigen Tagen aus einem sechswöchigen künstlichen Koma wiedererwacht und sollte hier wieder aufgebaut werden. Aber ich konnte auf meinem linken Ohr nichts mehr hören. Die Tests, die mit mir in den darauffolgenden Tagen gemacht wurden, bestätigten das Schlimmste: einseitig taub!
Und plötzlich ist alles anders
Warum das passierte, dazu gibt es verschiedene Ansichten. Eine einheitliche Klärung bekam ich nie. Tatsache ist aber, dass ich auf meinem linken Ohr nichts mehr hören kann.
Nachdem das festgestellt wurde, legte man mir und meiner Familie ans Herz, ein Cochlea-Implantat zu implantieren. Dabei handelt es sich um eine Art Hörprothese für Menschen, bei denen der Hörnerv noch funktionsfähig ist oder schwerhörige Menschen, bei denen ein normales Hörgerät nicht mehr funktioniert.
Später stellte sich dann heraus, dass ich selbst mit einem CI lediglich 20 Prozent meiner Hörkraft wieder erreichen konnte – und das nächste Problem ist und war, wie man damit hört.
Ich bekam das CI und konnte es aber dennoch zunächst nicht nutzen, da eine ewig lange Odyssee an Krankenhausaufenthalten sowie weitere Operationen folgten. Später stellte sich dann heraus, dass ich selbst mit einem CI lediglich 20 Prozent meiner Hörkraft wieder erreichen konnte – und das nächste Problem ist und war, wie man damit hört.
Zugegeben, für Menschen, die gar nicht mehr hören können oder es noch nie konnten, ist das CI eine wundervolle Möglichkeit, wieder am Leben teilhaben zu können. Für mich funktioniert es leider nicht. Ich habe mich in der Zeit, als ich es noch nicht nutzen konnte, so sehr daran gewöhnt, nur noch mit einem Ohr zu hören, sodass die Nutzung schwer und gruselig zugleich war. Das natürliche Gehör wird unterstützt, was man aber beachten muss ist, dass das biologische Hören, also so, wie wir alle hören, etwas anderes ist. Mit dem CI wurde alles für mich zu einem Roboter. Alles klang plötzlich verzerrt und nicht mehr echt. Für mich war es nicht möglich, damit zu leben.
„Ist die betrunken?!“
Ich hatte mich also daran gewöhnt, nur noch mit einem Ohr zu hören. Meine Umwelt jedoch nicht. Mit der Zerstörung meines Gehörs ging auch gleichzeitig mein Gleichgewichtssinn teilweise verloren. Was bedeutet das? Je nach Tagesform kann es sein, dass ich mehr oder weniger wanke beim Gehen. Für Außenstehende wirkt es oft so, als wäre ich betrunken. Im dunklen oder schummerigen Licht wird es schlimmer. Ich tapse dann eigentlich nur noch langsam vorwärts.
Bitte stellt euch für einen Moment euren ersten Gedanken vor. Wäre es: „Das arme Mädchen, was hat sie nur durchgemacht?“ oder eher „Selber schuld. Und dann noch saufen. Der kann man nicht mehr helfen!“.
Als ich damals mein Leben wieder begann, wurde ich oft mit angeekelten und kritischen Blicken gestraft. Eine 37 kg leichte und 1,76 m große Frau läuft wankend an der Krücke durch die Straße. Bitte stellt euch für einen Moment euren ersten Gedanken vor. Wäre es: „Das arme Mädchen, was hat sie nur durchgemacht?“ oder eher „Selber schuld. Und dann noch saufen. Der kann man nicht mehr helfen!“. Am schlimmsten war es, als ich irgendwann ohne Krücken lief. Und ja, wenn ich abends mit Freunden unterwegs war kam es vor, dass ich auch mal gefallen bin. Nicht, weil ich sturzbetrunken war, sondern weil mein Gleichgewicht nicht richtig funktioniert. Darüber denkt jedoch niemand nach. Alle glauben nur das, was sie sehen.
Ein Leben mit unsichtbarer Behinderung
Meine Behinderungen und Einschränkungen kann man nicht sehen. Ich trage eine künstliche Herzklappe, die meine Ausdauer einschränkt und bin auf einem Ohr taub, was meine Umweltwahrnehmung stark einschränkt.
Wenn Menschen an „Behinderung“ denken, dann fällt ihnen meist als Erstes ein Rollstuhl oder eine geistige Behinderung ein. Wie auch immer, man sieht es den Menschen AUF JEDEN FALL an. Ich muss diese Menschen enttäuschen: Nein, nicht jede Behinderung sieht man.
Psychische Erkrankungen, Herzerkrankungen, Depressionen, Hörbehinderungen sind von außen nicht zu erkennen aber dennoch da.
Im Jahr 2019 gab es über 7,9 Mio. schwerbehinderte Menschen. (1) Nicht alle Behinderungen jedoch sind sichtbar. Psychische Erkrankungen, Herzerkrankungen, Depressionen, Hörbehinderungen sind von außen nicht zu erkennen aber dennoch da. Jede Behinderung hat einen besonderen Anspruch und barrierefrei ist nicht gleichbedeutend mit „Wir bauen eine Rollstuhlrampe und sind barrierefrei“. Ich finde es so wichtig, dass auch andere Beeinträchtigungen mitgedacht werden. Wie oft stehe ich an einem Bahnhof und kann wichtige Ansagen nicht verstehen, weil sie aus einer Richtung kommen, die ich nicht höre. Wie oft falle ich aufgrund des fehlenden Gleichgewichts fast oder tatsächlich hin, weil die Gehwege zu schmal sind oder Baumwurzeln nicht beseitigt werden. Das hört sich banal an, für mich kann das aber durchaus gefährlich sein.
Ich wünsche mir kein Mitleid oder traurige Blicke. Ich wünsche mir die Anerkennung unsichtbarer Behinderungen. Es ist wichtig, nicht sofort in ein vorverurteilendes Schema zu fallen, nur weil man etwas sieht oder bemerkt, was man vielleicht nicht kennt oder direkt einordnen kann. Kommunikation ist und bleibt ein wertvoller Schlüssel. Hat man die Möglichkeit, sich auszutauschen, kann man Fragen stellen. Die meisten Personen, die ich kenne, die eine Beeinträchtigung auf die eine oder andere Weise haben, sind glücklich, wenn sie darüber aufklären können.
Die Gesellschaft muss lernen, dass wir genauso leben können wie ein "normaler" Mensch - nur vielleicht ein bisschen anders.
Der Begriff, der dieses Verhalten beschreibt, ist Inklusion. Ich habe aber leider oft das Gefühl, das nur das "inklusiv" wird, was auch auf den ersten Blick zu erkennen ist. Menschen wie ich werden hier des Öfteren nicht mitgedacht. Inklusion ist nicht Mitleid, sondern dass jede:r die Möglichkeit bekommt an der Gesellschaft teilzunehmen und ein gleichwertiges Mitglied zu sein. Unabhängig davon, ob ich nun hören kann, sehen kann, ob ich depressiv bin, nicht laufen kann, Panikattacken habe oder eine andere Krankheit oder Beeinträchtigung, die mein Leben beeinflusst. Die Gesellschaft muss lernen, dass wir genauso leben können wie ein "normaler" Mensch - nur vielleicht ein bisschen anders.
Mein Umgang mit einer unsichtbaren Behinderung
Ich pflege grundsätzlich einen sehr offenen Umgang damit. Lerne ich Menschen neu kennen, so weise ich sie meist sofort darauf hin. Einfach um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen. Eine unangenehme Situation wäre zum Beispiel, wenn eine Person, die ich neu kennenlerne, auf der linken Seite steht, mich anspricht und ich nicht reagiere. Es würde von Anfang an einen falschen Eindruck vermitteln. Deshalb bin ich offen und spreche das sofort an.
Und auch wenn sich das jetzt so liest, als wäre alles tutti frutti und ich habe mich damit abgefunden und lebe mein bestes Leben, muss ich euch leider enttäuschen. Es gibt oft Situationen, in denen ich meine Behinderung hasse. Zum Beispiel, wenn ich nicht in den Moshpit kann, wenn ich weite Strecken nicht laufen kann, weil mein Herz schlappmacht und mein Gleichgewicht alles erschwert, es nervt, wenn ich nicht höre, von wo ein Klingeln, Musik oder auch die Krankenwagensirene kommt und manchmal sitze ich inmitten von Menschen, die sich alle unterhalten, lachen und feiern und ich verstehe dennoch nichts. Es tut weh, nicht „normal“ zu sein und das Gefühl zu haben, allem nicht gerecht werden zu können. Ich vermisse mein altes Leben. Jeden verdammten Tag. Und dennoch bin ich dankbar, dass ich noch da bin. Aber dazu nächstes Mal mehr…
Quelle:
(1): Niedersächsisches Bundesamt für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. (25. Januar 2019). Landesbehindertenbeauftragte zum Thema „Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen“ - Inklusion beginnt im Kopf! Abgerufen im November 2021 von https://www.ms.niedersachsen.de/startseite/service_kontakt/presseinformationen/landesbehindertenbeauftragte-zum-thema-menschen-mit-nicht-sichtbaren-behinderungen-173282.html
Du bist meine Tochter und ich muss schmerzhaft feststellen, wie lange habe ich nicht gewusst und mitbekommen, wie es dir mit deiner Behinderung wirklich geht! Wie du gelernt hast, im täglichen Leben diese deine Behinderung anzunehmen und damit das tägliche Leben meisterst. Du bist eine so tolle junge Frau geworden, die es geschafft hat, mit dieser Krankheit (Behinderung)ein Studium abzuschließen dein Leben in Griff hast und das Glück hast, einen liebevollen, verständnisvollen Partner an deiner Seite zu haben. Ich kann nur sagen, dass ich sooo unendlich stolz auf dich bin! Deine Mum